Schnupperstunde ...

Regeneration Souls - Millenniumskinder

 

 

Kapitel 10

 

 

Dieses Mal kam Mike mit einem Tablett auf uns zu und stellte es auf dem kleinen runden Tisch vor uns ab. Darauf standen neun kleine Shot-Gläser mit einem weißgelben Inhalt. Ich hatte keine Ahnung, was es war. Neben die Gläsern stellte er eine Flasche mit der gleichen gelblichen Flüssigkeit. „Was ist das? Wo ist mein 'Rose of a Day'?“ Schmollend sah ich zu Mike rüber, der es sich neben Jess gemütlich gemacht hatte. „Shots. Spezialität des Hauses. Wodka mit Limettensaft. Lasst es euch schmecken und bitte auf Ex, die Damen, ja? Das Zeug muss in einem Zug die Kehle runterlaufen. Und es ist verdammt lecker.“ Wohlwissend schaute er auf mich herab und dann zu Jess. Zuerst reichte er ihr eines der kleinen Gläser und danach mir. „Danke“ sagte ich und roch einmal daran. Das Aroma von Limetten und etwas Süßlichem stieg mir in die Nase. Vielleicht war es ja genauso lecker wie mein Drink zuvor. Probieren geht über Studieren, hieß es doch so schön, nicht wahr? „Du solltest vorsichtig damit sein, Serah, denn das ist
etwas härter als dein 'Rose of a Day'.“ Ich schaute auf das Glas in meiner Hand und dann wieder zu den beiden. „Ich will heute Abend leben, also runter damit!“ Die andern beiden begannen zu grinsen, und wir stießen mit den kleinen Gläser an, um den Inhalt in einem Zug zu leeren. Keuchend stellte ich das Glas vor mir ab und atmete einmal tief durch. „Oh ha! Das ist ja richtig lecker“, kicherte ich und ließ mich zurück gegen die Lehne fallen. Ein wohlig warmes Gefühl breitete sich in meiner Magengegend aus, und von Minute zu Minute entspannte ich mich mehr. Jess und Mike griffen auch schon zum zweiten Shot und forderten mich auf, ebenfalls weiterzumachen. Das ließ ich mir nicht zweimal sagen und trank auch das zweite Gläschen aus. Die Heiterkeit nahm zu, und mein Hochgefühl wurde immer stärker. Nach dem dritten Glas glaubte ich, dass ich wieder fit zum Tanzen wäre und zerrte Jess und Mike auf die Füße, obwohl die beiden damit begonnen hatten, sich wild zu küssen. Mir egal! Ich drängte mich dazwischen, griff tollkühn nach ihren Händen, und das Tanzen ging wild weiter. Meine Füße taten mittlerweile gar nicht mehr weh. Auch meine Hemmungen fielen von mir ab, und ich tanzte anders. Freier, aufreizender. Ich fühlte mich, als wäre ich mit einem Mal begehrenswerter geworden. Einige
heiße Typen scharten sich um mich, und mit jedem einzelnen von ihnen tanzte ich eng. Das alles war so aufregend, dass ich einfach mehr wollte und mich den Männern etwas zu stürmisch an den Hals warf. Ich tanzte immer enger mit anderen zusammen. Die Zeit vergaß ich vollkommen. Eine Uhr hatte ich auch nicht dabei, und mein Handy befand sich in meiner Handtasche, die bei unseren anderen Sachen auf der Couch lag. Jess behielt sie im Auge, wie sie versprochen hatte. Nach einer Weile brauchte ich eine Pause und musste zur Toilette. Der Alkohol ließ eine gewaltige Hitze in mir aufsteigen, und ich benötigte dringend eine Abkühlung. Ungelenk zwängte ich mich durch die tanzende Meute in Richtung Damentoiletten. Ich wusste nicht, wie lange ich brauchte, um dort überhaupt hinzugelangen, und noch weniger, wie lange ich in der Schlange anstehen musste. Am Waschbecken wusch ich meine Hände und starrte in den Spiegel. Ich war ziemlich verschwitzt. Einige Haarsträhnen hatten sich gelöst hatten und klebten an meinen Wangen und meinem Hals. Ich stellte den Wasserhahn auf kalt um und fuhr mir dann mit meinen nassen, kühlen Händen über die Stirn, die Wangen, den Hals und das Dekolletee, was erfrischend war und guttat. Ich wiederholte das Ganze noch zwei Mal. Langsam kehrte auch mein Verstand wieder zurück. Die Shots waren echt lecker gewesen. Vielleicht würde ich mir gleich noch einen genehmigen. Nachdem ich mich ausreichend abgekühlt hatte, verließ ich
die Toilette und begab mich wieder in die tanzende Menge. Es waren so viele Leute auf der Tanzfläche, dass mir komplett die Sicht versperrt wurde. Wo waren Jess und Mike? Und wo war unsere Couch? Ich wollte nur kurz einen Blick auf mein Handy werfen, um zu wissen, wie spät es war. Wir durften auf keinen Fall die Zeit aus den Augen verlieren. Und dann spürte ich ein eigenartiges Kribbeln im Nacken. Es war ein so merkwürdiges Gefühl, dass ich mich automatisch über die rechte Schulter umsah. Einige Meter entfernt stand ein Typ, hell erleuchtet von dem grellen Lichtstrahl der Lampe, die sich direkt über ihm befand. Er trug ein schwarzes enges T-Shirt, das seine Brustmuskeln betonte, und dazu eine dunkle Hose. Selbst Mikes Muskeln waren nichts dagegen. Bisher hatte ich mir noch nie Gedanken darüber gemacht, auf was für eine Art Mann ich überhaupt stand. Aber zu diesem hier fühlte ich mich sofort hingezogen. Ich stand halb verdeckt hinter einer Säule und schaute ihn mit offenem Mund an. Nein, ich gaffte ihn regelrecht an und musste mich fast beherrschen, nicht zu sabbern. Ich zwang mich dazu, den Mund wieder zu schließen, aber dennoch ließ ich meinen Blick auch weiterhin gedankenverloren auf ihm ruhen. Ich konnte mir einfach nicht helfen. Irgendetwas faszinierte mich ungeheuer an ihm, doch kam ich noch nicht darauf, was genau es war. Er tanzte nicht, sondern beobachtete nur die Leute, aber auf einmal drehte er ruckartig, wie vom Blitz getroffen, seinen Kopf in meine Richtung, obwohl ich noch immer halb hinter der Säule stand. Seine Augen waren fest auf mich gerichtet. Nicht auf
die tanzende Blondine links neben mir oder den Typen, der gerade versuchte, ihr an den Hintern zu fassen und dabei eine Ohrfeige kassierte. Nein … Er schaute mich an! Nur mich! Und dann schoss eine Erkenntnis durch meinen alkoholvernebelten Kopf. Er kam mir irgendwie bekannt vor. Ich war ihm schon einmal begegnet, doch … Wo und wann sollte das gewesen sein? In einer meiner Vorlesungen vielleicht? Ich lehnte mich mit dem Rücken an die Säule, während er sich in Bewegung setzte und wie eine Raubkatze auf mich zusteuerte. Oh Gott! Seine Muskeln tanzten anmutig bei diesen geschmeidigen Bewegungen, spannten sich im rhythmischen Takt seiner Schritte an. Mir wurde heiß. Seine Hände hatte er in die vorderen Hosentaschen gesteckt, aber ich sah, dass er nicht ein einziges  Mal den Blick von mir abwandte. Auch er schien mich zu mustern, obwohl ich nicht wusste, ob er genauso von mir gefesselt war wie ich von ihm, denn seine Miene war hart wie Stein und undurchschaubar. Erst als er die Distanz zwischen uns verringert hatte und sogar etwas dichter vor mir stand, als es die Wohlfühlzone zugelassen hätte, fiel mir auf, wie hochgewachsen er war. Er war gut zwei Köpfe größer als ich! Na gut, neben Jess war ich sowieso schon immer ein Zwerg gewesen mit meinen gerade mal eins dreiundsechzig. Aber selbst sie hätte er noch weit überragt. „Äh …“ Mir fehlten die Worte. Doch im hintersten Bereich meines
Gehirns meldete sich wieder das Gefühl, dass ich ihn kannte. Aber woher, kam mir immer noch nicht in den Sinn. Er stützte sich über meinem Kopf mit einem Arm an der Säule ab. Sein Gesicht war so nahe, dass ich seinen Duft wahrnahm. Er roch nach frischer Luft und etwas Holzigem. Und selbst das kam mir unheimlich vertraut vor. Mich überkam eine Gänsehaut. „Du kommst mir so verdammt bekannt vor“, sagte er und starrte in meine Augen, als wenn er darin die Antwort lesen könnte. „Ich … Also …“ Na toll! Nun hatte ich die Chance, an meinem einzigen freien Abend das Leben zu genießen und mit einem heißen Typen zu flirten und bekam nicht mal ein verflixtes und relativ vernünftiges Wort heraus? Es war zum Haareraufen! „Was?“, fragte er verwirrt. „Du bist doch nicht etwa die Eine?“ Sein Blick wurde starr und ungläubig. Fassungslosigkeit stand ihm ins Gesicht geschrieben. Ich verstand rein gar nichts. „Die Eine?“, wiederholte ich und schaute nun genauso ungläubig. „Nein! Das kann nicht sein!“ Er fuhr sich mit der Hand durch die kupferfarbenen Haare, die ihm in die Stirn fielen und teils seine Ohren verdeckten, schloss für einen Moment die Augen und atmete tief ein und aus. Sein Atem streifte meine Wangen, und ich presste meinen Rücken ein klein
wenig fester gegen die Säule. Und dann legte er auch noch seine andere freie Hand neben meinen Kopf an die Säule. Nun war ich zwischen seinen Armen eingeschlossen, und ein beklemmendes Gefühl machte sich langsam in mir breit. „Ich kann es fühlen. Eine Verbindung zwischen uns, aber … wenn du die Eine bist, dann …“ Ein seltsamer Ausdruck, den ich nicht deuten konnte, huschte über sein Gesicht, und seine Worte waren für mich nur noch verwirrender. „Wer bitte soll denn diese Eine sein?“ Neugier stieg in mir auf und verließ durch Worte meinen Mund. Ich wollte wissen, was er meinte. Oder ob er nur betrunken war. Aber er roch nicht nach Alkohol. „Sag schon“, drängte ich ihn. Irgendwie bekam ich langsam ein ungutes Gefühl. Plötzlich schlug ihm jemand von links neben mir auf den Arm, woraufhin er von mir abließ und sogar zwei Schritte zurücktrat. Aus dem Augenwinkel sah ich Jess und Mike. „Da seid ihr ja!“, quiekte ich freudig. „Serah, komm sofort zu mir!“, rief Jess wütend. „Wie bitte, was? Warum?“ „Komm her! Das ist kein Spaß!“ Ich hatte noch nie zuvor in Jess‘ Augen so eine Stärke und Bedrohung gesehen wie in diesem Moment. Sie leuchteten regelrecht, aber vielleicht bildete ich mir das auch nur durch die Lichter des Clubs ein. Hatte ich doch zu viel getrunken?
„Serah.“ Langsam sprach sie meinen Namen aus, aber ließ den Fremden vor mir nicht aus den Augen. Eine unterschwellige Warnung schwang in ihrer Stimme mit. Was zum Teufel war hier nur los? Ich rückte von der Säule ab und schaute noch einmal zu dem Fremden zurück. Sein Gesicht war gesenkt, aber seine Augen fixierten mich, und ein Lächeln stahl sich auf seine Züge. Unheimlich sexy, dachte ich. Und dann bewegten sich seine Lippen, so schnell, dass ich glaubte, mich verhört zu haben, denn Jess und Mike bekamen seine Worte nicht mit. „Serah, ich finde dich“, flüsterte er. Jess packte meinen Arm und zerrte mich durch die tanzende Menge hinter sich her. Was ging hier nur vor? Sie wollte doch, dass ich mich heute Abend amüsierte, und genau in dem Moment, als es so richtig interessant wurde, machte sie mir einen Strich durch die Rechnung. Plötzlich verspürte ich einen inneren Sog, und ich musste mich einmal umschauen, musste mir noch einmal diese sturmblauen Augen ansehen. Er blickte mir ebenfalls hinterher und kurz danach verschluckten zig andere springende Hinterköpfe und Gesichter sein wunderschönes, markantes Gesicht. Mein Herz machte einen Satz …

 


Kapitel 11

 

 

„So, du bleibst genau hier sitzen! Wir sind gleich wieder da!“ Jess klang aufgebracht und wütend. Sie schien innerlich zu kochen. Was war los? Erst wollte sie, dass ich Spaß hatte, und dann sprengte sie die Party, indem sie mich nach Hause brachte. Oh je! Wie spät war es eigentlich? Ich hatte vollkommen das Zeitgefühl verloren und ahnte Schlimmes. Mein Handy befand sich noch in der Handtasche, und die lag weiterhin auf dem kleinen runden Tisch bei der Halbmondcouch. „Hast du verstanden?“, mischte Mike sich ein. Ich warf ihm einen genervten Blick zu. „Ja, ich bleibe hier im Auto sitzen und warte auf euch. Verstanden!“ Ich warf die Hände in die Luft und stöhnte kurz auf, ließ mich wie ein nasser Sack nach hinten gegen die Lehne fallen. „Gut, wir sind gleich zurück. Stell bitte nichts Dummes an, okay?“ Jess klang echt besorgt, und ihre Miene verriet nichts Gutes. Sie warf die Wagentür zu, und ich saß hier allein im
Dunkeln. Die Party war definitiv zu Ende. Was war im Club passiert, als ich sie aus den Augen verloren hatte? Sie rannten zurück Richtung Club, während ich Trübsal blies und langsam von diesem unangenehmen, nagenden Gefühl befallen wurde, das man schlechtes Gewissen nennt. Und zwar gegenüber meinen Eltern. Von Minute zu Minute wurde es stärker und durchfloss meine Adern bis hin zu den Fingerspitzen. Ich wurde nervös und stellte mir alle möglichen Fragen. Was wäre, wenn mich meine Eltern dabei erwischen würden, wie ich heimlich in mein Zimmer kletterte? Was wäre, wenn sie herausfinden würden, wo ich die ganze Nacht gewesen war? Was wäre, wenn … Wenn es jetzt auch noch wirklich später war als eigentlich geplant und meine Eltern mitbekämen, dass ich nicht zu Hause war, dann würden sie mich umbringen. Die Frage war: Wie sollte ich in mein Zimmer zurückgelangen? Darüber hatte ich mir gar keine Gedanken gemacht. Ich musste wohl denselben Weg zurücknehmen, den ich gekommen war. Verdammter Mist! Es würde nicht leicht werden.
Wenig später bretterten wir über die Straßen; Mike war kein besonders vorsichtiger Fahrer. Er raste über rote Ampeln und fuhr in Kurven sogar teils über Fußgängerwege. Gott sei Dank war niemand auf den Straßen unterwegs. Es musste also schon richtig spät oder richtig früh sein, je nachdem, wie man es betrachtete. „Mike, mach mal langsam! Du bringst uns noch um! Dein
Fahrstil ist echt furchtbar“, brüllte ich nach vorn. Weder von Jess noch von Mike kam eine Reaktion. Was hatte ich denn verbrochen, als ich die beiden aus den Augen verloren hatte? Dieser Abend entwickelte sich immer mehr zu einer Katastrophe, dabei hatte er so schön angefangen. Frustriert griff ich in meine Handtasche neben mir, die Jess und Mike mit den anderen Sachen aus dem Club geholt hatten, und kramte nach meinem Handy. Ich zog es heraus und drückte einmal den Homebutton. Prompt erhellte sich das Display, und erbarmungslos sprangen mir die großen Zahlen darauf entgegen. Es war bereits nach drei. Ich schluckte den bitteren Kloß, der sich in meinem Hals gebildet hatte, herunter und überprüfte die Anruferliste. Zu meinem Erstaunen hatte niemand versucht, mich anzurufen. Was? Wie war das möglich? Waren meine Eltern noch gar nicht nach Hause gekommen? Ohne, dass ich es wollte, machte sich ein erleichtertes Grinsen auf meinem Gesicht breit. Als ich sah, dass auch keine What‘s App-Nachricht eingegangen war, strahlte ich bis über beide Ohren und drückte das Handy kurz an meine Brust. Hoffnung keimte in meinem Inneren auf. Vielleicht hatte ich doch noch Glück und würde ungeschoren davonkommen. Mein Handy wanderte zurück in die Handtasche, und ich schaute nach vorn. Jess starrte gedankenverloren und ziemlich ernst aus dem Fenster. Mike fuhr hochkonzentriert durch die Nacht und schien die Umgebung zu beobachten. Das war etwas merkwürdig.
„Jess?“ Sie murrte und drehte sich dann so im Sitz um, dass sie mich direkt anschauen konnte. Ihre Miene verriet nichts Gutes. „Kündigst du mir die Freundschaft?“, platzte es aus mir heraus. „Komm, sei ehrlich. Was habe ich verbockt? Ich will es wissen, lass es mich wieder gut machen …“ In meinen Augen sammelten sich schon Tränen. „Serah! Serah! Ganz ruhig!“ Was? Sie wollte meine Freundin bleiben? „Du kündigst mir also nicht die Freundschaft?“ Meine Stimme klang so elendig. „Was redest du da für ein dummes Zeug? He, Mike! Was hast du ihr noch zu trinken geholt?“ „Nichts weiter. Nur das, was wir alle zusammen getrunken haben.“ Ich wischte mir eine Träne weg, die sich gerade den Weg über meine Wange bahnen wollte. Meine Gefühle spielten Achterbahn, so kam es mir zumindest vor. „Serah, was da passiert ist, tut mir wahnsinnig leid.“ „Wieso hast du mir dann dazwischengefunkt? Bis zu diesem Zeitpunkt war es der bisher schönste Abend meines ganzen Lebens.“ Verwirrt sah ich sie an. „Nein, du verstehst nicht, ich … Wir …“ Sie deutete auf sich und dann auf Mike, der seine Augen noch immer starr auf die Straße gerichtet hatte.
„Okay, das Einzige, was ich euch übelnehme, ist, dass ihr den Flirt zwischen mir und dem heißen Mister No-Name versaut habt.“ Spielerisch wütend warf ich mich in die Lehne zurück und schmollte sie an. „Nein, Serah! Du verstehst das nicht. Wir wollten dich nur beschützen.“ „Mich beschützen? Das ist wirklich lieb von euch, aber Mister No-Name und ich waren uns gerade erst nähergekommen. Wir sind uns kaum begegnet, da schien es auch schon zwischen uns gefunkt zu haben, aber ihr zwei seid eingeschritten. Echt uncool, Jess.“ Ich funkelte sie an. Es hatte tatsächlich irgendwie zwischen uns gefunkt, aber auf eine völlig andere Art und Weise, als ich es mir je ausgemalt hätte. Er war mir so vertraut und dennoch so neu vorgekommen. Sein Duft … sein Gesicht … seine sturmblauen Augen … War das einer dieser Momente gewesen, die man Déjà-vu nannte? Vielleicht hatte es ja auf Gegenseitigkeit beruht, denn schließlich hatte er mich 'die Eine' genannt. „Bitte, Serah, es war nur zu deinem Besten.“ „Oh, bitte hör auf, so zu reden!“ Ich hob eine Hand, um Jess Einhalt zu gebieten, bevor sie weitersprechen konnte. „Du klingst schon genauso wie mein Vater.“ „Tut mir leid“, war das Letzte, was sie sagte. Die restliche Fahrt verbrachten wir alle drei schweigend, und schließlich hielt Mike den Wagen an einer für mich ungewöhnlichen Stelle. Einer Mauer.
„Wir sind da“, sagte er tonlos und warf Jess einen kurzen Blick zu. Ich griff nach meinen Sachen und öffnete bereits die Tür, als Jess nach hinten griff und mein Handgelenk umfasste. „Warte, Serah!“ Ihre Augen wirkten entschuldigend. „Ich hab es nicht so gemeint. Es tut mir wirklich leid. Ganz bestimmt will ich nicht wie dein Vater klingen, aber ich mache mir Sorgen, verstehst du?“ Ich nickte. Natürlich wusste ich das. „Schon gut. Das weiß ich doch“, sagte ich und lächelte zu ihr hinunter. „Sehen wir uns morgen in der Uni?“ Verdutzt schaute ich sie an. „Morgen?“ „Ja, morgen. Es ist doch schon Sonntag.“ Sie zwinkerte mir zu. „Klar.“ Nun strahlte ich wieder. „Wenn mich meine Eltern nicht doch noch umbringen“, scherzte ich. „Okay, schreib mir, wenn es Probleme gibt, ja?“ Sie ließ mich los, Mike fuhr langsam weiter, und ich nickte ihr zu, sozusagen ein Versprechen. Auf Jess konnte ich mich schließlich immer verlassen, und vorhin hatte sie nur sicherstellen wollen, dass ich nichts Dummes tat. Okay, nun musste ich mich aber sputen. Das Auto der beiden war außer Sichtweite, und ich überlegte gerade krampfhaft, wie ich diese dämliche Mauer wieder hochkäme. Als ich mich davongeschlichen hatte, war ich einfach hinuntergesprungen
und in Mikes Armen gelandet. Aber wie sollte ich nun wieder hochkommen? Die beiden schienen leider auch nicht daran gedacht zu haben. Ich ging ein Stück zurück, bis zur Ecke der Mauer, und sah einen dicken Ast darüber ragen. Wenn ich es schaffte, mich daran hochzuziehen und über den Baum auf das Gelände zu kommen, sollte der Rest ein Kinderspiel werden. Doch leider saß mir auch die Zeit im Nacken und tickte erbarmungslos weiter. Schließlich würden meine Eltern jeden Moment nach Hause kommen. Davon ging ich zumindest aus. Momentan war es aber noch so dunkel auf dem Gelände, dass ich annahm, sie wären noch nicht da. Vielleicht war die Gala so spannend, dass sie später heimkommen würden. Mein zweites Problem neben der Zeit war, dass ich absolut unsportlich war. Zuallererst warf ich meine Tasche mit meinem ganzen Zeug über die Mauer. Ein dumpfer Aufprall war zu hören, und ich atmete erleichtert aus, als keine Alarmanlage losging, wie man es aus Filmen immer kannte. Dann fasste ich mir an den Kopf und fluchte vor mich hin, weil ich mich auf der Fahrt hierher nicht umgezogen hatte. Ich trug noch die Klamotten, die ich für den Club angezogen hatte. Zum Tanzen waren sie super gewesen, aber nun wollte ich eine Mauer und dann mein Zimmerfenster erklimmen, und dafür eigneten sich dieses kurze Kleid und die hohen Stilettos nun einmal überhaupt nicht. Na prima! Doch lange fackeln durfte ich nicht. Falls meine Eltern wirklich noch nicht zu Hause waren, könnte es aber nicht mehr lange dauern, und ich wollte mich auf keinen
Fall von ihnen erwischen lassen. Das gäbe die Höchststrafe. „Komm schon“, flüsterte ich mir selbst zu. Ich stellte mich direkt unter den Ast, der so weit oben zu sein schien, und versuchte, ihn durch einen Sprung zu fassen zu bekommen. Verfehlt! Ich war einfach zu klein für diese Welt. Hektisch sah ich mich um und spürte, wie das Blut rauschend durch meinen Körper sauste. Meine Gedanken liefen auf Hochtouren, und ich überlegte krampfhaft, wie ich an den verdammten Ast kommen sollte. Und dann erblickte ich eine Mülltonne auf der anderen Straßenseite. Was blieb mir anderes übrig? So schnell ich nur konnte, und dafür musste ich größte Mühen aufbringen, zerrte ich die eklige Tonne, die nach den schlimmsten Abfällen stank, unter den Ast. Ungelenk wie ich war, kletterte ich darauf und war nun schon auf Kopfhöhe mit dem dicken Geäst. Ich stemmte mich daran hoch und krabbelte hinauf zum Stamm. Gott sei Dank war der Weg nach unten leichter. Unsanft landete ich im Gras, rappelte mich aber sogleich wieder auf und griff dabei nach der Tüte mit meinen Sachen. Alles blieb weiterhin ruhig, daher schlich ich denselben Weg zurück, den ich zuvor auch beim Verlassen des Hauses genommen hatte. Mit einem so kurzen Kleid und diesen viel zu hohen Schuhen war eine Klettertour an einer Regenrinne hinauf der reinste Horror. Als ich mein Zimmerfenster aufstieß und mich wie ein nasser Sack auf den Boden plumpsen ließ, war ich völlig außer Atem. Aber es war immer noch nicht alles überstanden. Ich schob in Windeseile die Tasche mit den Klamotten unters Bett,
schlüpfte so schnell es ging aus dem Kleid und den Schuhen, verstaute diese im Schrank und warf mir meinen Pyjama über. Meine Attrappe im Bett ließ ich ebenso im Kleiderschrank verschwinden. Soweit so gut. Jetzt musste ich nur noch schnell ins Bad und mich frisch machen. Vor meiner Zimmertür hielt ich inne und lauschte. Nichts außer Stille. Die Luft schien rein zu sein. Ich schloss so leise wie möglich auf und huschte ins Bad. Dort putzte ich mir die Zähne und wusch mir die ganze Schminke aus dem Gesicht. Ich würde später noch richtig duschen gehen, aber jetzt sollte das erst einmal genügen. Als ich gerade aus dem Bad trat und das Licht ausknipste, hörte ich, wie unten im Foyer die Haustür ins Schloss fiel. Meine Eltern! Sie waren zurück. Das war aber echt knapp gewesen. „Meinst du nicht, dass Serah sich bald entwickeln wird?“ Das war die Stimme von Mom. „Ansonsten können wir den Plan auch vergessen und gleich zum nächsten Schritt übergehen.“ Was für ein nächster Schritt? Wovon redeten sie? „Sollte sie es nicht schaffen, dann können wir sie vergessen, und sie können sie haben. Sie wird dann sowieso nicht mehr von großem Nutzen sein“, sagte mein Vater, und seine Stimme klang so kalt wie der Nordpol. Mich überkam eine Gänsehaut. Es war, als würden kalte Finger nach mir greifen wollen. „Sie muss es einfach schaffen!“, zischte Mom meinen Vater an.
„Sei still, Cassandra! Nicht, dass uns noch jemand vom Personal hört!“, fauchte Dad zurück. Oh je! Das war das Stichwort, um mich zu verdrücken. Ich beschloss, bevor ich noch entdeckt würde, in mein Zimmer zu gehen. Wie ein Ninja schlich ich mich zurück und schloss die Tür nicht wieder ab. Nur für den Fall der Fälle. Rasch kroch ich unter meine Bettdecke und bemühte mich, meinen schnellen Herzschlag unter Kontrolle zu bringen. Meine Augen kniff ich zusammen und versuchte so gut es ging, wie ein schlafender Mensch auszusehen. Ich bezweifelte, dass es mir auch nur ansatzweise gelang. Und dann stockte mein Atem, als ich Schritte auf dem Flur meiner Etage hörte. Sie kamen doch tatsächlich nach mir schauen! Sie kontrollierten, ob ich schlief und da war. Hatten sie das schon immer getan? Was bekam ich wohl alles nicht mit, wenn ich schlief? Schafften sie es immer, mein Schloss zu entriegeln? Die Schritte kamen näher und stoppten direkt vor meinem Zimmer. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, und ich glaubte, jeder, der dieses Zimmer betrat, würde meinen Herzschlag hören können. Ich musste mich schlafend stellen! Sie durften nichts mitbekommen. Meine gefalteten Hände presste ich unter der Decke an meine Brust und betete, sie würden wieder gehen. Doch dann öffnete sich die Tür, und ich versuchte ruhig und gleichmäßig zu atmen. Wie eine Schlafende aussehen, ermahnte ich mich innerlich. „Hm, dieses Mal ist gar nicht abgeschlossen“, sagte mein Vater leise.
Klang er verwundert? Wie gern hätte ich jetzt sein Gesicht gesehen, um genau zu wissen, was er dazu dachte. Doch ich durfte außer dem Heben und Senken meiner Brust beim Atmen keine andere Bewegung machen. „Sie schließt sonst immer ab“, flüsterte Mom. Sie wussten es also! Sie wussten, dass ich jeden Abend meine Tür abschloss. Die nächste Frage, die mir brennend auf der Seele lag, war, ob sie dann trotzdem auch Zugang zu meinem Zimmer hätten. „Kommt sie dir schon irgendwie verändert vor?“, fuhr Vater leise fort. Verändert? Inwiefern sollte ich mich verändern? „Nein. Bisher noch gar nicht. Ich verstehe es nicht. Andere wie sie haben schon mit vierzehn oder spätestens sechzehn Jahren begonnen, ihre besonderen Eigenschaften zu entwickeln, aber Serah ist schon achtzehn! Was ist los?“ Moms Stimme wurde etwas lauter. Worüber war sie nur so sauer? Über mich? Ich verstand ihre Worte nicht, und dabei hatte ich den Alkohol gut vertragen. Ich fühlte mich schon wieder total nüchtern. „Sei still, verdammt! Willst du sie wecken? Sie weiß nicht, dass wir sie nachts …!“, brummte Vater sie wütend an. „Fass mich nicht an, Victor!“ Was spielte sich da gerade nur ab? Ich bekam es langsam mit der Angst zu tun. Über was zum Teufel sprachen die beiden nur? Mich nachts … was? Wussten sie über alles Bescheid?
„Cassandra, lass uns gehen! Bevor sie noch aufwacht. Wir schauen sie uns morgen genauer an.“ „Hm.“ Mom schien die Nase zu rümpfen, und dann schloss sich die Tür. Die Schritte auf dem Flur entfernten sich, und ich lauschte solange, bis nichts mehr zu hören war. Ruckartig setzte ich mich auf und starrte die Zimmertür an. Ich überlegte nur eine Sekunde, sprang dann aus dem Bett, lief zur Tür und verschloss sie eilig. Mein Herz hämmerte wie wild gegen meine Brust; ich war noch nie so verwirrt wie jetzt gewesen. 

 

 

Kapitel 12

 

 

Es dauerte noch einige Minuten, bis ich mich komplett beruhigt hatte. Ich setzte mich zurück aufs Bett und griff darunter nach der Tüte von heute Abend. Darin befand sich auch noch die Handtasche mit meinem Handy. Nachdem ich es herausgefischt und den Homebutton gedrückt hatte, sah ich auch schon eine Nachricht von Jess. Spätestens morgen früh hätte ich sie ohnehin gesehen, aber da ich das Handy nun schon einmal in der Hand hatte, erledigte ich es eben jetzt. Mein Handy war immer auf Stumm geschaltet, manchmal auch auf Vibration. Den Ton brauchte ich nicht, und er würde mich ohnehin nur in schwierige Situationen bringen. Zum Beispiel, wenn die Nachricht vorhin angekommen wäre, als meine Eltern im Zimmer gewesen waren. Hätten sie sie unerlaubt gelesen? Oh je, wenn ich nur daran dachte, überkam mich Übelkeit. Schnell öffnete ich Jess‘ What‘s App-Nachricht und überflog die Zeilen:
„Und? Bist du erwischt worden? Waren deine Eltern schon zu Hause? Bitte schreib mir was Positives,
ansonsten bin ich gleich bei dir!“
„Alles gut soweit. Meine Eltern sind kurz nach mir nach Hause gekommen. Aber es war total seltsam.“
„Warum seltsam? Was ist los, Serah?“
„Sie haben total komisches Zeug geredet. Ich weiß nicht mal, wie ich dir das erklären soll. Ich hatte ein sehr ungutes Gefühl dabei.“
„War es wie letztens, als deine Mom dich morgens so komisch angesprochen hat?“
„Ja …“ Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis Jess antwortete. In meiner Brust zog sich alles zusammen. Am liebsten wäre ich jetzt bei ihr gewesen.
„Okay, Serah! Schlaf jetzt etwas. Wir reden morgen in der Uni darüber. Falls noch was passiert, ruf mich an! Gute Nacht.“
Ich legte das Handy auf den Nachttisch und versuchte, endlich zu schlafen. Erstaunlicherweise gelang mir das schneller als gedacht. Es dauerte nicht lange, da schlief ich tief und fest ein. Ich musste doch müder gewesen sein als angenommen.
Als ich das nächste Mal die Augen wieder öffnete, empfing mich ein gräuliches Licht in meinem Zimmer. Ein Blick nach draußen zeigte mir das hässliche Wetter. Regen
prasselte gegen die Scheibe und floss daran hinunter. Ich war noch sehr müde, aber ich durfte nicht allzu spät aufstehen, damit meine Eltern keinen Verdacht schöpften. Also machte ich mich fertig, so wie jeden Morgen, und begab mich in die Höhle des Löwen. Das ungute Gefühl der Nacht würde an diesem Tag mein ständiger Begleiter sein. Das Haus wirkte anders als sonst. Oder vielleicht bildete ich mir das auch nur ein. Aus der Küche drang der leckere Duft von Pancakes, und Maria stand wie immer am Herd. Sie wendete gerade einen Pancake und schaute dann auf. „Oh, Serah, Guten Morgen! Wie geht es dir, Liebes? Hast du Hunger?“ Marias Fürsorge wärmte mir jedes Mal aufs neue das Herz. Sie war so gütig und liebevoll. „Mir geht es blendend“, sagte ich und winkte ihr kurz zu. Ich setzte mich auf den Stuhl am Tresen vor ihr, so wie immer. Sofort lud sie mir einen Berg von Pancakes auf den Teller. Obendrauf gab sie ein Stück Butter und goss zum krönenden Abschluss, wie in der Werbung, eine großzügige Menge Ahornsirup darüber. Mir lief bereits das Wasser im Mund zusammen. Maria wusste, wie sehr ich Pancakes mit Ahornsirup liebte. Und erst jetzt bemerkte ich, dass ich mich fühlte, als wäre ich kurz davor zu verhungern. Ich hatte gestern kaum etwas gegessen. „So, bitteschön! Lass es dir schmecken, Liebes“, sagte sie,
stellte den Teller vor mir ab und reichte mir Messer und Gabel. Das ließ ich mir nicht zweimal sagen und begann sofort mit dem Essen. Kaum hatte ich den ersten Pancake von oben verputzt, da stellte Maria ein Glas mit Orangensaft neben den Teller. Hastig trank ich einen Schluck und bemerkte auch erst jetzt den intensiven Durst, der in meinem Hals kratzte. „Kann ich bitte noch ein Glas haben?“, fragte ich atemlos, nachdem ich den Saft in einem Zug geleert hatte. „Aber natürlich.“ Sofort schenkte mir Maria nach und musterte mich. „Danke“, hauchte ich und stellte das Glas ab. Maria füllte ein drittes Mal nach, und ich aß weiter. „Dir scheint es besser zu gehen. Du siehst viel gesünder als gestern aus“, bemerkte sie nebenbei, als sie den Herd säuberte und das Geschirr in die Spülmaschine räumte. „Ich fühle mich auch besser.“ Und das war nicht gelogen, denn nach dem Essen verschwand auch langsam das ungute Gefühl in meiner Magengegend. Nachdem ich alles verputzt hatte, was Maria mir auf den Teller geladen hatte, musste ich mich strecken. Ich war so satt. Und dann, wie am gestrigen Morgen, schlenderte Mom in die Küche. Sie blieb jedoch im Türrahmen stehen und lehnte sich dagegen. Ihre kalten Augen musterten mich. „Geht es dir wieder besser, ja?“ Dir auch einen guten Morgen, dachte ich. Sie war so unhöflich.
„Ja“, erwiderte ich nur. „Guten Morgen, Madam“, sagte Maria eilig. „Serah, heute Nachmittag kommst du bitte ins Arbeitszimmer deines Vaters. Wir wollen mit dir reden“, sagte sie wieder an mich gewandt und ignorierte Marias Begrüßung einfach. „Und über was?“, hakte ich sogleich nach. „Das wirst du dann erfahren“, erwiderte sie mit ruhiger, frostiger Stimme und verließ daraufhin wieder die Küche, ohne etwas gegessen zu haben. Das Blut in meinen Adern gefror bei ihren Worten und ihrem eisigen Blick. Mom wurde von Tag zu Tag seltsamer. Und dann noch ihre Worte von letzter Nacht. Ich verstehe das nicht. Andere wie sie haben schon mit vierzehn oder spätestens mit sechzehn Jahren begonnen, ihre besonderen Eigenschaften zu entwickeln, aber Serah ist schon achtzehn! Auf was wollte sie hinaus? Sie meinte doch nicht etwa, dass sie mich für zurückgeblieben hielt? Nein, es musste etwas anderes sein. Aber was? Ihre Worte ergaben keinen Sinn. Ganz und gar nicht. Oder lag ich mit dem Stoff in der Uni zurück? Das konnte es auch nicht sein, denn ich war die Beste in meinem Jahrgang. Aber was war es dann? Welche Art von Eigenschaften hätte ich längst entwickelt haben sollen? Ich stand auf und verabschiedete mich von Maria. Dann begab ich mich ins Wohnzimmer, wo sich Gott sei Dank niemand anderes aufhielt, und schaltete den Fernseher ein. Ich zappte zu den Nachrichten, holte mein Handy aus der Tasche
und surfte ein wenig im Internet. Nach wenigen Minuten wurde meine Aufmerksamkeit von etwas geweckt, was die Nachrichtensprecherin sagte. „Schon wieder wurden Dutzende Menschen tot in den Gassen aufgefunden. Die Polizei ermittelt noch, doch bisher hat sich noch niemand zu der Tat bekannt. Die Kriminalpolizei wurde eingeschaltet. Auffällig war vor allem, dass die Opfer verbrannte Stellen an den Schläfen sowie eine Brandmarkierung an den Handgelenken aufwiesen, die aussah wie das durchgestrichene Symbol für Unendlichkeit. Was genau die Symbole bedeuten, kann die Polizei noch nicht mit Sicherheit sagen. Derzeit wird vermutet, dass die Personen Opfer einer Sekte oder einer Schwerverbrecherbande geworden sind. Es ist auch nicht auszuschließen, dass ein Psychopath für die Taten verantwortlich ist. Die Polizei ruft zur Vorsicht auf. Und nun zum Wetter …“ Oh mein Gott, war das Erste, was mir durch den Kopf schoss. Dann überlegte ich, was es mit den Brandmalen an den Schläfen und den Symbolen auf sich haben könnte? Wofür standen sie? So etwas kannte man aus Erzählungen und Filmen über alte psychiatrische Heilanstalten, wo Menschen auf schlimmste Art und Weise gefoltert wurden, weil man glaubte, dass dies der beste Weg zur Heilung des Patienten gewesen war. Aber dies waren absolut falsche Ansätze gewesen. Man hielt die Personen für verrückt und sperrte sie ein.
Irgendwann, ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen war, wurde ich von einem lauten, energischen Klopfen geweckt. War ich eingeschlafen? Hatte ich etwa den ganzen Tag hier im Wohnzimmer auf der Couch verbracht? Wie müde war ich wirklich gewesen? Das Klopfen wurde immer dringlicher. Etwas traf auf … Holz? Ich öffnete meine Augen und richtete mich langsam auf. Dann sah ich Mom im Türrahmen stehen, die noch ein letztes Mal klopfte. „Na, endlich bist du wach, Serah“, maulte sie und schaute mich abwertend an. Ich stand auf und ging langsam auf sie zu. „Los, komm jetzt! Dein Vater wartet schon oben in seinem Arbeitszimmer auf dich.“ Stimmt. Sie wollten sich ja mit mir unterhalten. Gleich würde ich erfahren, worüber. Mir schwante Übles. Hatten sie etwa herausgefunden, dass ich mich letzte Nacht davongeschlichen hatte? Oh, bitte nicht! Das wäre mein Ende! „Beeil dich! Dein Nickerchen auf der Couch war lang genug“, herrschte Mom mich an, als sie sich kurz zu mir umdrehte. Ich hielt mit Absicht einen gewissen Sicherheitsabstand zu ihr. Man konnte nie wissen … Wir gingen die Treppe hinauf in die zweite Etage des Hauses. Hier befanden sich die Schlafzimmer sowie das Arbeitszimmer meines Vaters – für mich im Grunde eine verbotene Zone. Hier durfte ich mich eigentlich gar nicht
aufhalten, was auch der Grund dafür war, dass mir das Herz bis zum Hals schlug. Meine Neugier und die Angst rangen um die Oberhand. Auf der einen Seite wollte ich unbedingt wissen, was meine Eltern mit mir zu bereden hatten, aber auf der anderen Seite fürchtete ich mich auch davor. Die Angst schnürte mir beinahe die Luft zum Atmen ab. Ging es um die Uni? Um letzte Nacht? Mom blieb abrupt stehen, sodass ich fast von hinten gegen sie gestoßen wäre. Ich konnte mich gerade noch rechtzeitig mit schwankenden Schritten abfangen. Sie blickte noch einmal zu mir zurück und öffnete dann die Tür. Quietschend, wie in einem Horrorfilm, ging sie auf, und ich erblickte meinen Vater hinter seinem riesigen Eichenholzschreibtisch. Er thronte in seinem Ledersessel, hatte die Hände vor sich auf dem edlen Tisch gefaltet und starrte mich mit einer undurchdringlichen und nachdenklichen Miene an. „Geh rein!“, befahl Mom hinter mir und legte mir auch schon eine Hand auf den Rücken, um mich in den Raum zu schieben. Was ging hier vor sich? Die Angst kroch immer weiter mein Rückgrat herauf, und eine Gänsehaut breitete sich auf meiner Haut aus. Wie zur Salzsäule erstarrt blickte ich auf meinen Vater hinab, der mich immer noch schweigend musterte. Sein Blick war irgendwie erniedrigend und einschüchternd. Um was ging es hier? „Dad, ich …“, begann ich, doch Mom fiel mir ins Wort. „Sei still, Serah!“
Sie ging um mich herum, setzte sich auf die Tischkante aus dem teuren Holz und überschlug die langen, seidig glatten Beine. Mom trug ein kurzes Baumwollstrickkleid mit langen Ärmeln. Nun richtete sie sich ihren lockigen Bob und strich sich einige blonde Strähnen aus der Stirn. Unsere Haare hatten denselben Blondton. Leider sah ich ihr so ähnlich, dass sich nicht leugnen ließ, dass sie meine Mutter war. Dads starre Miene entspannte sich nun etwas, und er schaute mich direkt an. „Serah“, sagte er mit ausdrucksloser Stimme. „Dad?“ Ich versuchte, seinem Blick standzuhalten. Mein Herz trommelte wie wild in meiner Brust. Nun stützte er das Kinn auf seinen gefalteten Händen ab. „Serah, deine Mutter und ich finden, dass du dich nicht so entwickelst, wie wir es uns erhofft haben.“ „Und was soll das bitteschön heißen?“ Ein dicker stacheliger Kloß bildete sich in meinem Hals, und meine Stimme drohte zu versagen. Schweiß bildete sich langsam auf meiner Stirn. „Wir haben Großes von dir erwartet. Schon als du ins Teenager-Alter kamst. Doch du hast bis jetzt keine Fortschritte gezeigt. Dein Stand ist nach wie vor auf null.“ „Kannst du mir das etwas genauer erklären? Ich verstehe nicht, was du meinst. Mein Studium habe ich doch ohnehin schon nach euren Wünschen gewählt. Meine Noten an der Uni sind erstklassig. Was wollt ihr denn noch?“ „Serah!“ Mahnend rief Mom dazwischen.
„Serah, wir haben ganz andere Dinge für dich vorgesehen. Dass du diesen Studiengang wählen solltest, hatte damit zu tun, dass du mehr über die Welt und den Menschen lernen solltest. Zwar bist du mit dem Theoretischen gut zurechtgekommen, aber das Praktische fehlt dir immer noch.“ Ich verstand noch immer nichts. Es schien, als wäre Dads Geduld bald am Ende, denn an seiner Schläfe und seinem Hals trat jeweils eine Ader hervor. „Deine Seele schläft noch immer, obwohl sie schon längst hätte erwacht sein müssen. Deine Gehirnströme zeigen einfach keinerlei Aktivität!“ Nun brüllte mich Dad so laut an, dass ich zusammenzuckte. Wieso redete er von meiner Seele? „Was …? Wovon sprichst du?“ Meine Stimme zitterte. Sein Gesicht lief dunkelrot an. Ich schaute zu Mom hinüber, und ihr Blick war voller Hass. Was hatte ich den beiden angetan? Wussten sie von letzter Nacht? Aber was sie sagten, schien sich nicht auf den Clubbesuch zu beziehen. „Wieso überwacht ihr mich?“, fragte ich stattdessen und ging noch einen Schritt rückwärts. „Deine Seele hätte bereits vor Jahren erwachen sollen. Deine Gaben sollten bereits einsatzfähig sein. Die anderen warten schon viel zu lange darauf, Serah. Warum erwachst du nicht?“ „Sie kann es nicht, Victor! Ich hab es dir doch gesagt! Sie hat versagt“, schimpfte Mom und sprang vom Tisch auf die
Füße. Mit energischen Schritten kam sie auf mich zu, packte mein Handgelenk, verdrehte es auf dem Rücken und zwang mich in die Knie. Durch meinen Arm schoss ein heftiger Schmerz, und als ich aufblickte, sah ich, dass Vater sich vom Sessel erhob und schnellen Schrittes auf mich zukam. Er kramte aus seiner Anzuginnentasche eine kleine weiße Schachtel und holte daraus eine Pille. „Was ist das? Bleib weg!“, schrie ich und versuchte aufzustehen, doch Mom drückte mich mit der anderen Hand im Nacken zu Boden. Meine Wange schrammte über den kratzigen Teppich und begann, wie Feuer zu brennen. „Was wollt ihr? Lasst mich los!“ Meine Stimme erstickte an den Tränen, die sich nun ihren Weg bahnten. Sie waren heiß und brannten auf meinem Gesicht. Und dann riss Mom meinen Kopf an den Haaren etwas höher. Ohne ein Wort schob Vater mir die kleine Pille in den Mund und zwang mich, sie hinunterzuschlucken. Irgendwie gelang es ihm, und ich konnte nur noch nach Luft schnappen. „Was war das?“, presste ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Nichts, was dich zu interessieren hat. Morgen weißt du ohnehin nichts mehr davon“, sagte er völlig desinteressiert. „Du solltest dich langsam anstrengen und endlich aufwachen, Serah! Sonst hat dein letztes Stündlein bald geschlagen“, drohte mir Mom, und ihre eisige Stimmte kroch durch meine Knochen wie ein Geist.
Als ich noch einmal aufblickte, sah ich, wie Dad noch etwas anderes aus seiner Anzuginnentasche holte. Ein kleines Gerät. Nicht größer als ein Handy, aber ein Mobiltelefon war es nicht. Es hatte kein Display, sondern zwei nach oben führende Enden, an denen kurze Drähte hinausragten. Das war doch nicht …? Dann drückte er an der Seite auf den roten Knopf, und plötzlich hörte ich ein Knistern und sah blauweiße Funken. Ein durchdringendes surrendes Geräusch erfüllte den Raum. „Halt! Stopp!“, schrie ich ihn an. „Was hast du vor?“ Ich sah den Taser vor meinem Gesicht, und das bedrohliche Surren und die blauen Funken brachten mein Blut zum Kochen. Was für sadistische Eltern, war mein letzter Gedanke, bevor mich Mom wieder mit dem Gesicht auf den Teppich drückte und ich einen heißen, zitternden Stromschlag zwischen meinen Schulterblättern spürte. Ich hatte das Gefühl, die Wucht würde mir den Rücken zerfetzen. Ich hatte meinen Körper nicht mehr unter Kontrolle und spürte nur noch einen bebenden Schmerz durch meine Glieder jagen. Nach wenigen Sekunden wurde alles um mich herum schwarz …


Regeneration Souls - Kristallleuchten

 

 

Kapitel 3

 

 

 

 

Als die Tür ruckartig geöffnet wurde, schreckte ich aus dem Schlaf hoch.

 

Männer in schwarzen Uniformen und mit Sturmgewehren trampelten herein, und ich starrte irritiert wie ein in die Ecke getriebenes Tier zwischen ihnen hin und her. Noch immer war ich völlig erschöpft und kraftlos.

 

Drei schwarz uniformierte Männer standen in dem winzigen Zimmer. Zwei von ihnen richteten ihre Waffen auf mich, einer trat vor und holte aus seiner hinteren Hosentasche einen dicken Stoffbeutel.

 

Ich unterdrückte ein erschrockenes Keuchen, schluckte es mit der aufkommenden Angst hinunter.

 

W… Was soll das werden?“, stammelte ich.

 

Aber auch von ihnen bekam ich ebenso wenig Antworten auf meine Fragen wie zuvor von Logan.

 

Vorsichtig rutschte ich auf dem wackeligen Bett zurück bis an die Wand.

 

Oh je!

 

Ich fühlte mich wirklich wie ein in die Ecke getriebenes Tier.

 

Ich will wissen, was ihr damit vorhabt“, forderte ich mit etwas lauterer, aber kratziger Stimme und zeigte zitternd auf den Beutel, der mir Unbehagen bereitete.

 

Einer der uniformierten Männer lachte.

 

Ein anderer brummte genervt.

 

Mach schon, er will sie jetzt endlich sehen“, schnauzte er.

 

Wer war er?

 

Wen meint ihr?“ Meine Stimme klang nun etwas sicherer.

 

Alle drei Augenpaare waren auf mich gerichtet.

 

Ich schluckte den Kloß in meinen Hals hinunter und starrte sie kampflustig an.

 

Der Typ mit dem Stoffbeutel, der nahe an meinem Bett stand, rührte sich nun und trat dicht an die Bettkante.

 

Er wird langsam ungeduldig. Schon zu lange hinkt er mit seinen Forschungen hinterher. Auf der nächsten Gala will er bahnbrechende Ergebnisse liefern.“

 

Seine Worte ließen mich erstarren. Er sprach von Charles. Die Wissenschaft musste ihm einfach alles bedeuten. Er scherte sich nicht um andere, und sogar ein Menschenleben würde er für seine Ziele aufs Spiel setzen. Ihm war nur der Ruhm wichtig, er wollte seinen Kollegen überlegen sein und Erfolg auf dem Schwarzmarkt haben. Die vollkommene Kontrolle.

 

Während ich mir die schlimmsten Szenarien ausmalte, wünschte ich mir, dass das alles ein Traum wäre und ich gleich neben Zack im Konvoi-Bus aufwachen würde. Das hier musste ein verdammter Alptraum sein.

 

Los, komm!“ Der Uniformierte vor mir krabbelte aufs Bett.

 

Ich wollte zurückweichen, doch die Wand hinter mir war im Weg.

 

Er griff nach meinem Handgelenk und zog mich unsanft nach vorn.

 

Ich schrie kurz auf, doch er riss mir den Kopf an den Haaren nach hinten. Meine Kopfhaut begann zu brennen, und ich stöhnte vor Schmerzen auf.

 

Er stülpte mir den dicken, undurchsichtigen Beutel über das Gesicht.

 

Darunter war es so stickig, dass ich das Gefühl hatte, keine Luft mehr zu bekommen. Und dann, wie aus dem Nichts, traf mich etwas Hartes an der Wange, sodass ich zur Seite fiel. Hart schlug ich mit der Schulter auf, und mein Schrei blieb mir in der Kehle stecken.

 

Er will dich jetzt sehen!“, brüllte einer der drei.

 

Ich wusste nicht, wer von ihnen es war, aber im nächsten Moment wurde ich unsanft auf die Füße gezogen und aus dem Zimmer gestoßen. Blindlings torkelte ich vorwärts und hielt mir die schmerzende Schulter. Unter meinen Fingern pochte sie heftig. Und als ich mir gerade den Stoffbeutel vom Kopf ziehen wollte, griff einer nach meinen Händen und hielt sie mir hinter dem Rücken fest. Etwas Kaltes wurde um meine Handgelenke gelegt, und ich hörte ein einrastendes Geräusch. Panik machte sich in mir breit. Sie hatten mir Handschellen angelegt. Verdammt!

 

Das machte alles nur noch schwieriger.

 

Sie zerrten mich, wie Logan am Vortag, am Oberarm vorwärts.

 

Ich stolperte alle paar Meter. Es schien wohl in Richtung Fahrstuhl zu gehen, denn ich hörte das vertraute Pling.

 

Obwohl der Beutel über meinem Kopf blickdicht war, verhinderte er nicht, dass mir der widerliche Gestank aus dem Korridor in die Nase stieg. Mir wurde wieder übel davon, auch wenn ich ihn nicht einordnen konnte. Eins wusste ich aber ganz sicher: Ich musste so schnell wie möglich von hier verschwinden.

 

 

 

So, Serah …“

 

Wut war das Erste, was ich empfand, als man mir den Beutel vom Kopf riss und ich festgeschnallt auf einer Liege lag.

 

Wir sollten nun langsam mit den Spielchen aufhören und uns den ernsten Dingen widmen. Den wirklich wichtigen Angelegenheiten.“

 

Charles‘ Stimme war unverkennbar.

 

Sie klang alt und rau, und außerdem hatte ich sie in meinem Kopf unter „Verräter abgespeichert. Ich würde sie überall wiedererkennen. Diesem Mistkerl wollte ich persönlich das Handwerk legen. In mir stieg immer mehr der Wunsch auf, ihn umzubringen. Es würde mir sogar eventuell Freude bereiten. Und niemand müsste mehr das gleiche Schicksal wie Alice erleiden – oder wie ich. Der Gedanke an ihren Tod stachelte meinen Zorn nur noch mehr an. Obwohl ich Alice nie persönlich begegnet war und sie nur aus einem Video und Zacks Geschichte kannte, brannte mein unbändiger Zorn über das, was man ihr angetan hatte, wie ein unkontrolliertes Feuer in meinen Adern und versengte für den Moment jegliches Gefühl der Angst und Einsamkeit.

 

Charles beugte sich gerade über mich, um die Verschlüsse an meinen Handgelenken zu prüfen.

 

Ich wollte mein Bein hochreißen, ihn mit aller Kraft an den Kopf treten und ihn für kurze Zeit außer Gefecht setzen, doch die Gurte an meinen Beinen und Armen waren zu straff gezogen.

 

Charles schien das Zucken meines linken Beines zu bemerken und schaute nun belustigt auf mich herab.

 

Ich lag etwas nach oben geneigt und festgeschnallt auf einer Patientenliege, wie man sie aus Krankenhäusern kannte. Sogar um meinen Hals war ein Gurt gelegt worden. Vielleicht hatten sie Angst, ich könnte ihnen die Nase brechen oder wie ein tollwütiger Hund zubeißen. Möglicherweise war so etwas schon einmal vorgefallen, und sie wollten jetzt auf Nummer sicher gehen. Es hätte mir eine unglaubliche Genugtuung verschafft, ihnen Schaden zuzufügen. Schließlich waren sie keine Götter. Nur Menschen und damit auch verwundbar.

 

Nachdem Charles sich ein paar Schritte von mir entfernt hatte, ruckelte ich mit den Händen an den Gurten, aber sie lösten sich kein Stück. Die Männer hatten wirklich verdammt gute Arbeit geleistet.

 

Charles‘ dröhnendes Lachen hallte durch das Labor. Es war aber nicht sein Labor, in das ich eingebrochen und wo ich das gläserne Tablet gestohlen hatte. Nein, wir waren in einem anderen Raum, und ich hatte völlig die Orientierung verloren, wusste nicht, auf welcher Ebene ich mich befand. Im Fahrstuhl hatte man mich noch einmal niedergeschlagen, sodass ich gar nicht mitbekommen hatte, ob wir hinauf- oder hinuntergefahren waren. Die Erinnerungen an die schweren Fausthiebe holten mich ein wenig auf den Boden der Tatsachen zurück. Was glaubte ich eigentlich ausrichten zu können? Ich war festgebunden und schon etliche Male geschlagen worden. Mir fehlte jegliche Kraft. Und bei all diesen Malen hatte ich nichts ausrichten können. Meine Wut legte sich ein wenig. Dann hob ich den Blick, und mein leicht zugeschwollenes rechtes Auge schmerzte dabei, was ich jedoch ignorierte. Ich sah Charles direkt an.

 

Sein Blick wirkte vorfreudig und neugierig.

 

Lass mich sofort frei, Charles!“, forderte ich.

 

Weiter hinter ihm, am Eingang des Labors, standen zwei uniformierte Wachposten. Sie waren bewaffnet und beobachteten jede meiner beschwerlichen Bewegungen. Ich musste genau aufpassen, was ich tat. Sie würden mich vielleicht nicht umbringen, das hätten sie ansonsten schon längst getan, aber sie würden mir schrecklich wehtun. Was sie bereits schon unzählige Male getan hatten.

 

Tut mir leid, Serah, aber ich habe Großes mit dir vor.“

 

Seine Stimme klang äußerst erwartungsvoll.

 

Deine Seele muss etwas ganz Besonderes sein. Du bist noch immer nicht erwacht, und dennoch strahlt sie eine starke Präsenz aus. Du selbst nimmst das vielleicht nicht wahr, aber die Seelenkinder schon.“

 

Er ging zwei Schritte nach rechts und drückte auf einem Pult ein paar Knöpfe. Über mir hörte ich ein klackendes Geräusch, und dann baumelte plötzlich ein Dutzend dicker, schwarzer Kabel aus dem Nichts herab. Ihre Enden bestanden offenbar aus Kupfer, und diese waren in den verschiedensten Farben umwickelt. Sie hingen baumelnd über mir und … knisterten elektrisch. Strom! Man hatte sie unter Strom gesetzt.

 

Als ich an den letzten Taser-Angriff zurückdachte, wurde mir speiübel.

 

Serah, ich sage das wirklich nur ungern, aber selbst für den Fall, dass du dich brav ergibst und tust, was wir von dir verlangen, müssen wir dich körperlich leider etwas … schwächen.“

 

Ich knirschte vor Wut mit den Zähnen.

 

Das haben Sie aber nett ausgedrückt“, fauchte ich zurück.

 

Seine Augen verengten sich zu Schlitzen, und nun wirkte er todernst.

 

Du scheinst wohl immer noch nicht zu verstehen, dass deine Seele, eine Millenniumsseele, von großer Bedeutung ist. Damit können wir so viel verändern.“

 

Er hob eine Hand in die Höhe und bildete dann eine Faust. Sie zitterte leicht.

 

Pah! Was sollen das denn für Veränderungen sein? Das kann doch nichts Gutes bedeuten.“

 

Noch einmal versuchte ich, meine Hände aus den Gurten zu befreien, doch es klappte einfach nicht.

 

Stattdessen richteten nun die beiden Wachposten ihre Maschinengewehre auf mich.

 

Serah, du solltest wirklich vorsichtiger sein, denn diese beiden Herren könnten dich ganz schnell ausschalten. Verstehst du, was ich dir damit sagen will?“

 

Ich rührte mich nicht, sondern blickte ihnen starr entgegen. Charles hatte geklungen, als hätte er mit einem Kleinkind geredet. Natürlich verstand ich alles, was er sagte, doch ich hatte andere Ansichten als er.

 

Aber ich brauche dich lebend“, fuhr er fort. „Ich habe keine Lust und auch keine Zeit, noch einmal tausend Jahre auf deine Seele zu warten. Ich brauche sie jetzt!“ Dann bewegte er sich blitzschnell und riss einen Hebel am Pult herunter.

 

Das Knistern und Surren über mir wurde lauter. Dann landeten die Kabel auf mir, und ein einzelner heftiger Stromstoß fuhr durch meinen Körper.

 

Die Schmerzen waren so furchtbar, dass ich einen Schrei ausstieß – in der Hoffnung, dass die Qualen etwas erträglicher würden, doch viel brachte es nicht. Dann piepte es, die Kabel schossen zurück zur Decke und verschwanden. Die Röhrenstofflampe über mir begann kurz zu flackern.

 

Meine Atmung war viel zu schnell, kam stoßweise, und ich fühlte mich, als wäre ich in der Antarktis einen Marathon gelaufen, denn plötzlich begann ich heftig zu zittern, und nicht der Strom war daran schuld.

 

Charles trat in mein Sichtfeld und strich mir ein paar Haarsträhnen aus meiner schweißgebadeten Stirn.

 

Noch keine Veränderung“, sagte er mehr zu sich selbst als zu mir und leuchtete mit einer winzigen Taschenlampe in meine Augen.

 

Fass …“ Meine Stimme brach, noch bevor ich überhaupt ein weiteres Wort herausbringen konnte.

 

In meinem Hals brannte alles, und es war, als würde ein Rest Elektrizität durch meinen Körper jagen, denn die Muskeln an meinen Oberarmen zuckten noch immer.

 

Charles verließ mein Sichtfeld. Seine Schritte klangen genauso weit weg wie vorhin, als er zum Pult gegangen war.

 

Die Panik schärfte meine Sinne, und ich konnte genau hören, wie er wieder den Hebel umlegte.

 

Dann eben noch einmal“, sagte er eigentlich viel zu leise, doch ich hörte ihn dennoch.

 

Ich hörte jedes einzelne Wort und auch das Klicken, das über mir ertönte. Nun begann mein ganzer Körper zu zittern und dann sah ich die Kabel wieder auf mich herabfallen. Sie landeten dieses Mal sofort auf mir, ohne zu stoppen, und ich hörte nur noch meine kratzige Stimme. Doch während ich nach Worten rang, kamen nur Schmerzensschreie heraus. Dieses Mal dauerte die Prozedur länger – bis alles um mich herum schwarz wurde.

 

Meine Augen fielen von ganz allein zu.

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 4

 

 

 

 

 

 

 

So ging es tage-, wenn nicht sogar wochenlang.

 

Allmählich gewöhnte ich mich an die Schmerzen, die unterschiedlichen Foltermethoden und an meine raue, kratzige Stimme. Meine Kehle fühlte sich an, als wäre sie aus Schmirgelpapier. Ich hatte mich selbst schon lange nicht mehr reden gehört. Die Wut, die ich zuvor empfunden hatte, hatte sich in etwas anderes verwandelt. Ich fühlte mich im Grunde nur noch verloren.

 

Zack und die anderen würden nicht zurückkommen, um mich zu retten. Sie würden nicht kommen, um mich hier wegzuholen. Wie lange war unser missglückter Plan nun schon her? Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren.

 

Immer wieder zerrte man mich aus diesem kleinen Zimmer, das man mühelos mit drei großen Schritten durchqueren konnte. Und am Abend oder in der Nacht – genau konnte ich es nicht einschätzen – schleppte man mich hierher zurück und warf mich wie einen Müllsack auf das Bett.

 

Auch jetzt lag ich hier und hatte kaum noch Kraft, um mich überhaupt umzudrehen. Ich lag auf dem Bauch, und meine Glieder lagen irgendwo schlaff neben meinem Körper. Meine Haare fielen mir unordentlich und strähnig in die Stirn. Seit drei Tagen hatte man mich nicht mehr duschen lassen. Ich roch nicht mehr gut und fühlte mich noch mieser, als ich aussah. Immer wieder kamen neue Prellungen, Blutergüsse oder Platzwunden dazu. Wenn ich noch die Kraft dazu hatte aufzustehen, schleppte ich mich in das winzige, an mein Zimmer angrenzende Bad, in dem gerade einmal genügend Platz für eine Toilette und ein Waschbecken war. Über dem Waschbecken hing ein alter, zerkratzter Spiegel, in dem ich immer mein geschundenes Gesicht betrachtete.

 

Kaum waren alte Schwellungen zurückgegangen, kamen neue dazu. Auch jetzt wollte ich wissen, wie ich aussah, und stemmte mich mit zitternden Armen von der harten Matratze hoch. Mühsam setzte ich einen Fuß vor den anderen und tastete mich schwankend an der Wand entlang, bis ich das Badezimmer erreichte. Ich schaltete das weiße kalte Licht über dem Spiegel ein und sah auch schon das große Entsetzen in meinen eigenen Augen.

 

Ich hatte dunkelrote Flecken an beiden Schläfen. Ein Auge war leicht zugeschwollen. Meine Unterlippe war aufgeplatzt und blutete. Und was ich noch erschreckender fand, war, dass mein Hals von weiteren roten Flecken übersät war. Sie hatten die Form von Fingerabdrücken. Hatte man mich besinnungslos gewürgt? Was waren das für kranke Wissenschaftler? Was wollten sie mit diesen ganzen Foltermethoden erreichen?

 

Ja, richtig … Sie wollten mein Erwachen erzwingen.

 

Tränen der Wut und der Verzweiflung traten in meine Augen, und ich versuchte sie wegzublinzeln. Weinen würde jetzt nichts bringen. Ich musste stark sein. Für mich! Wenn Zack und die anderen nicht kamen, um mich zu retten, dann musste ich mich eben selbst retten.

 

Ich schaute wieder zum Spiegel auf und betrachtete die langen Kratzer darauf. Sie erinnerten mich an etwas. Und dann kam mir ein furchtbarer Gedanke. In der Vergangenheit musste es hier schon unzählige Menschen gegeben haben, die hier eingesperrt und gefoltert worden waren. Sie hatten alle wohl denselben Gedanken gehabt wie ich gerade. Ich müsste den Spiegel zerbrechen, um mir den Hauch einer Chance auf eine Flucht zu sichern. Ein großer Splitter musste her. Die letzten Morgen waren mir noch im Gedächtnis geblieben.

 

Vor ungefähr zwei Wochen hatten sie aufgehört, auch mein Badezimmer zu kontrollieren. Sie hatten wohl die Zuversicht, dass ich so geschwächt, kraftlos und willenlos wäre, dass ich nichts tun würde, außer im Bett zu liegen und mich wie ein Fötus zusammenzurollen. Aber da hatten sie sich gewaltig getäuscht. Ich würde es ihnen zeigen. Und vor allem Charles.

 

Mit meinem unverletzten Auge fixierte ich so gut ich konnte die Mitte des Spiegels und schlug mit der restlichen Kraft, die mir noch geblieben war, gegen die kalte Glasfläche. Sie splitterte, und Risse zogen sich von der Mitte bis hin zum Rand. Noch einmal holte ich aus, und dann, als meine Fingerknöchel die harte Oberfläche durchbrachen, zerbarst der Spiegel in unzählige Splitter. Und ich hatte Glück! Eine Scherbe, fast so groß wie mein Unterarm, steckte noch in der Halterung an der Wand. Ich sah mich selbst darin. Mein geschundenes Gesicht. Meine Blessuren … Meine kalten Augen … Sie hatten sich verändert. Dabei hatten sie einst so viel Wärme ausgestrahlt. Doch diese junge Frau gab es nicht mehr. Vielleicht würde ich nie mehr die alte Serah sein. Manchmal glaubte ich, dass in mir noch eine ganz andere Person lebte. Ein anderes, unberechenbares Ich.

 

Ich versuchte, die Gedanken beiseitezuschieben und mich auf den Splitter zu konzentrieren. Krampfhaft überlegte ich, wo ich die große Scherbe verstecken sollte. Man durfte sie nicht sehen, aber zeitgleich musste sie auch griffbereit sein.

 

Mit einem leichten Ruck zog ich sie aus der Halterung und ging zurück in das winzige Zimmer. Viel Auswahlmöglich-keiten hatte ich nicht. Der Lüftungsschacht über der Tür war winzig, und ich hatte keine Möglichkeit, dort heranzukommen. An der Decke zog sich ein zweispuriger dicker Draht entlang und umrundete einmal das Zimmer. Dieser Draht legte sich auch über den Lüftungsschacht. Ich wusste, dass er unter Strom stehen musste, denn wenn man ganz still war und lauschte, konnte man ihn surren hören. Und so wie ich Charles einschätzte, war die Spannung nicht gering. Würde ich ihn auch nur mit der Fingerspitze berühren, würde ich einen so starken Stromschlag bekommen, dass ich wohl erst einmal ein bis zwei Tage außer Gefecht gesetzt wäre. Nein, das durfte ich nicht riskieren. Also fiel der Lüftungsschacht weg. Aber etwas anderes als das Bett blieb mir nicht. Um den Spiegelsplitter schnell genug hervorholen zu können, musste ich ihn unter dem Kopfkissen verstecken. In meinem Inneren ging ich noch einmal die üblichen Handlungsabläufe der Uniformierten Männer durch, bevor sie mich zu Charles brachten.

 

Wenn sie hereinkamen, schenkten sie mir kaum noch Beachtung. Es wurde zur Routine, und ich hatte mich nach kurzer Zeit nicht mehr zur Wehr gesetzt.

 

Dann stülpen sie mir jedes Mal diesen stickigen Beutel über den Kopf.

 

Zu guter Letzt wurde ich zusammengeschlagen und in Charles‘ Labor geschleift, wo ich meist erst wieder richtig zu mir kam, wenn ich bereits auf der Liege festgeschnallt war.

 

Im Grunde hatte ich also nur die Chance auf eine Flucht, wenn ich schon bei der ersten Gelegenheit die schwarzuniformierten Männer ausschalten würde, bevor sie mir den Beutel über den Kopf zogen. Es musste schnell und reibungslos gehen. Mir durfte kein Patzer unterlaufen.

 

Da ich heute erst wieder von einer weiteren Folterstunde zurückgebracht wurde, würde man mich jetzt erst einmal ungefähr drei Tage in Ruhe lassen. Essen bekam ich leider auch nur unregelmäßig, weswegen ich kaum zu Kräften kam. Manchmal brachten sie mir länger als einen Tag nichts zu essen, was mich sehr schwächte. Wasser gab es auch nur zu den faden Mahlzeiten.

 

Es war schwer einzuschätzen, wann genau drei Tage vorbei waren, wenn man kein Tageslicht sah und keine Uhr hatte. Und mein Zeitgefühl hatte sich ja bereits vor langer Zeit verabschiedet. Von daher blieb mir eigentlich nichts anderes übrig, als den Splitter schon jetzt unter meinem Kissen zu verstecken. Sie würden keine Kontrolle machen. Ich war mir also sicher, dass ihn niemand entdecken würde. Kameras hatte ich bisher keine gefunden. Zumindest beobachteten sie mich nicht. Ich konnte nur hoffen, dass niemand den Krach gehört hatte, als ich den Spiegel zerschlagen hatte. Als ich einen Blick auf meine blutigen Hände warf, machte ich mir allerdings Sorgen, dass die kleinen feinen Schnitte mich verraten könnten.

 

Schnell schob ich den Splitter unter das Kissen, eilte zurück ins Bad und schob von dort aus vorsichtig die restlichen Scherben unter das Bett – so weit wie möglich an die Wand, sodass man sie beim Hereinkommen nicht gleich sehen würde.

 

Jetzt hieß es Hände waschen und abwarten.

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 5

 

 

 

 

 

 

 

Ich war wach und hatte die letzten Stunden kaum ein Auge zugetan. Meine Sinne waren bis aufs Äußerste geschärft, während ich darauf wartete, dass die Tür aufging und sie wieder hereinkamen, um mich zu holen.

 

Im Zimmer war es dunkel und totenstill. Man hätte die flinken Schritte einer Maus hören können.

 

Mein Atem ging ganz flach, und ich wartete auf die Schritte der Uniformierten. Wartete auf irgendwelche Geräusche vor der Tür. Noch tat sich nichts.

 

Minuten vergingen, und ich hatte schon beinahe die Hoffnung aufgegeben, dass heute überhaupt noch irgendjemand kommen würde, um mich zu holen.

 

Doch dann riss jemand die Tür auf. Das schwere Metall prallte gegen die Wand.

 

Im Augenblick hieß es Ruhe bewahren. Wenn ich mich jetzt bewegen würde, dann wäre mein Plan hinüber, und ich müsste auf eine nächste Gelegenheit warten. Doch wenn sie herausbekämen, dass ich den Spiegel im kleinen Badezimmer nebenan zerschmettert und den großen Splitter unter meinem Kissen versteckt hatte, würden sie mir Schlimmeres als je zuvor antun – da wäre ich jede Wette eingegangen.

 

Nun hörte ich endlich Schritte, die ich aus irgendeinem Grund nicht vernommen hatte, bevor die Tür aufgerissen worden war. Hatten sie sich diesmal angeschlichen?

 

Der Lärm schwer stampfender Füße in Stiefeln drangen in das kleine Zimmer. Ich zwang mich, weiter flach zu atmen und mich nicht zu bewegen. Einer von ihnen musste schon an mein Bett kommen. Ich hatte sie schon so lange beobachtet, dass ich wusste, wohin ich greifen musste, um die Pistole an ihrem rechten Oberschenkel zu packen und sofort auf die anderen zwei zu schießen, die sich immer rechts und links von der Tür positionierten.

 

Nur noch ein paar Schritte …

 

Doch dann stockte mir der Atem, denn ich nahm einen bekannten Duft wahr. Meine Sinne schlugen sofort Purzelbäume, und mein Herz erwachte in meiner Brust zu neuem Leben. Es schlug wie die zarten Flügel eines Schmetterlings.

 

Da bist du ja, Serah.“

 

Diese Stimme.

 

Wie lange war es her, seit ich sie das letzte Mal gehört hatte?

 

Sofort keimte auch ein verdrängter Schmerz in mir auf.

 

Die Eine, flüsterte er.

 

Er hatte diese Worte vor einer gefühlten Ewigkeit schon einmal zu mir gesagt. Sie waren schon zu einer weit entfernten Erinnerung geworden, und doch waren sie nun, da ich sie wieder hörte, so frisch, dass sie etwas in meinem Inneren belebten.

 

Serah?“

 

Seine Stimme klang zittrig. Ängstlich.

 

Ich hätte mich zu ihm umdrehen sollen, um ihm zu zeigen, dass ich ihn gehört hatte; und ich wollte, dass er mich in seine Arme nahm und mich von hier wegbrachte. Warum konnte ich mich also nicht bewegen?

 

Er legte seine warme Hand auf meine nackte Schulter.

 

Ich erschauerte und sog seinen einzigartigen Duft ein.

 

Bitte mach die Augen auf, Serah. Sieh mich an“, flehte er.

 

Kurz danach senkte sich die Matratze hinter mir. Er berührte mich behutsam mit den Fingern am Kinn und strich vorsichtig über meine aufgeplatzte Unterlippe.

 

Es tut mir so leid. Das musst du mir glauben.“

 

Ich wollte ihm so gern ins Gesicht sehen. Wollte mir diese einzigartigen sturmblauen Augen ansehen, die ich über alles liebte. Ich wollte ihn so gern berühren, aber meine Muskeln wollten mir einfach nicht gehorchen. Auch meine Augenlider waren so schwer wie Blei und blieben hartnäckig geschlossen.

 

Was war nur los?

Erneut versuchte ich, meine Lippen zu öffnen, meine Zunge zu bewegen, um endlich seinen Namen sagen zu können.

Zack“, krächzte ich schließlich.

 

Doch dann, als ich es endlich geschafft hatte, meine Augen zu öffnen, begriff ich, dass das alles nur ein Traum gewesen sein musste. Zack war niemals hier gewesen. Die Matratze hinter mir war kühl. Unberührt. Hier hatte niemand gesessen. Er war nicht gekommen, um mich hier rauszuholen. Diese Erkenntnis stürzte mich in eine tiefe Verzweiflung. Ich ließ meinen Kopf auf das Kissen sinken und versuchte, meine Tränen zurückzuhalten. Ich wollte nicht weinen, doch schließlich musste ich dem Drang nachgeben. Ich war tatsächlich eingeschlafen, so erschöpft musste ich gewesen sein. Panisch schob ich meine Hand unter das Kissen, tastete nach dem Spiegelsplitter und stieß erleichtert meinen angehaltenen Atem aus, als ich die glatte Oberfläche unter den Fingerspitzen spürte. Ich setzte mich auf, um mir die restlichen Tränen aus dem Gesicht zu wischen.

 

Er war niemals hier gewesen.

 

Er hatte nicht in echt zu mir gesprochen.

 

Er hatte mich nicht wirklich berührt.

 

Noch immer war ich hier allein.

 

Mein kurzes Hochgefühl aus dem Traum war wie weggewischt. Sofort kehrten die Kraftlosigkeit und die Einsamkeit zurück. Ich war allein und musste nun auch allein versuchen, hier rauszukommen. Zack würde niemals zurückkommen, um mich zu retten. Jess und Mike genauso wenig.

 

Doch ehe ich weiter darüber nachdenken konnte, hörte ich schon näherkommende, marschierende Schritte. Sie sind es! Also doch … Heute sollte es soweit sein.

Hastig legte ich mich wieder zurück in meine Schlafposition und zog die kratzige Decke bis zum Kinn hoch. Eine Hand schob ich unauffällig unter das Kissen und schloss die Augen. Ich begann zu zählen. Versuchte, ruhig zu atmen, als würde ich schlafen.

 

Eine Sekunde …

 

Zwei Sekunden …

 

Drei Sekunden …

 

Vier Sekunden …

 

Fünf …

 

Rums! Die Metalltür wurde wie in meinem Traum aufgerissen und knallte dann gegen die Wand. Ich rührte mich nicht, sondern wartete nur.

 

Sechs Sekunden …

 

Sieben Sekunden …

 

Acht Sekunden …

 

Hey! Ist sie tot? Die rührt sich kein Stück“, stellte einer der drei Uniformierten fest.

 

Geh hin und prüf das! Los!“

 

Wieder erklangen Schritte, die sich diesmal meinem Bett näherten.

 

Neun Sekunden …

 

Zehn Sekunden …

 

Aufwachen! Sofort!“, knurrte mich der Uniformierte direkt vor meinem Bett an.

 

Nun war meine Chance gekommen. Ich nutzte das Überraschungsmoment, warf die Decke zurück, griff nach dem Splitter unter meinem Kissen und rammte ihm diesen in den Hals. Blut spritzte an meine Finger und mein Kinn. Ein leichtes Lächeln umspielte meine Lippen.

 

Volltreffer“, flüsterte ich.

 

Doch damit wäre es nicht genug. Zeit war kostbar, und ich durfte sie in diesem Moment nicht vergeuden. Gerade kippte der Uniformierte mir entgegen, da griff ich an das Halfter an seinem rechten Oberschenkel und zog blitzschnell die Pistole heraus.

 

Die beiden Uniformierten an der Tür waren ziemlich verwirrt, was mir nur zugutekam.

 

Bevor sie ihre Maschinengewehre auf mich richten konnten, zielte ich auf ihre Stirn und drückte zweimal hintereinander den Abzug.

 

Es wurde still im Zimmer. Zunächst rührte sich keiner von beiden, so als wäre die Zeit stehengeblieben, aber dann fielen sie wie Kartoffelsäcke um. Die Maschinengewehre fielen klappernd neben ihnen zu Boden. Eines schlitterte direkt vor meine Füße.

 

Ich fackelte nicht lange, sondern warf die Pistole aufs Bett. Stattdessen hob ich ein Maschinengewehr auf und schlich mich damit zur Tür. Vom Korridor her hörte ich nichts und niemanden. Ich nahm all meinen Mut zusammen und rief mir wieder in Erinnerung, dass ich wohl jeden töten müsste, der mir in die Quere käme, um hier herauszukommen. Und dann rannte ich los. Ich lief in die entgegengesetzte Richtung und hoffte, auch hier einen anderen Fahrstuhl zu sehen der mit Fluchtwegen verbunden war. Wenn ich die Pläne von Charles‘ gläsernem Tablet noch richtig im Kopf hatte, gab es zu den Fahrstühlen der Wachmänner auch immer Fluchtwege. Und dann tauchte nach einigen Metern wirklich ein Fahrstuhl vor mir auf. Ein Hochgefühl überkam mich. Gerade wollte ich erleichtert den angehaltenen Atem ausstoßen, als ich plötzlich ein mir nur allzu vertrautes Pling hörte. Sofort blieb ich stehen, erhob das Maschinengewehr und richtete es auf die Fahrstuhltür. Ich fühlte, wie sich Schweiß auf meiner Stirn bildete und sich langsam einen Weg über meine Schläfe bahnte. Die Zeit schien stillzustehen, während ich darauf wartete, dass die Türen sich öffneten. Wer sich dahinter befand, wusste ich nicht, aber ich zielte bereits ungefähr auf Kopfhöhe. Ganz gleich, wer es war, ich musste abdrücken. Egal wer …!

 

Die Türen glitten zu beiden Seiten auf, und es kam ein Schwarzuniformierter zum Vorschein.

 

Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, betätigte ich mit dem Finger den Abzug, noch bevor die Türen vollständig offen waren.

 

Der Uniformierte stürzte zu Boden, als die metallische Stimme des Fahrstuhls ertönte und das Stockwerk verkündete. Mein mit Adrenalin vollgepumptes Gehirn schnappte die Worte Abteilung M auf.

 

M? M war Charles‘ Ebene. Hier verrichtete er seine Arbeit in den Laboren. Er hatte alle hinters Licht geführt. Zack, Jess, Mike und womöglich auch alle anderen Wissenschaftler, die hier arbeiteten. Vermutlich wussten nur diejenigen über seine Pläne Bescheid, die auch unmittelbar mit ihm zusammenarbeiteten – seine Schützlinge, die er anlernte, wenn man das überhaupt so bezeichnen durfte. Bei dem Gedanken an Logan überkam mich ein eisiger Schauer, sodass ich mich schüttelte. Dabei schmerzten meine Glieder. Doch ich durfte nicht stehenbleiben. Ich musste weiter.

 

Mit Mühe und Not zog ich den toten Schwarzuniformierten aus der Kabine des Fahrstuhls und stieg sogleich selbst ein. Ich drückte auf den Knopf, der mich wohl in die oberste Ebene bringen würde. Angespannt fuhr ich an unzähligen Abteilungen vorbei. Gott sei Dank hielt der Fahrstuhl nicht einmal an – auch wenn mir dies zugleich merkwürdig vorkam. Sie mussten im Grunde schon mitbekommen haben, dass ich geflohen war und doch eigentlich versuchen, mich aufzuhalten – jeden Mann einsetzen, wenn ich doch so wertvoll für Charles war. Schließlich hatte ich vier Uniformierte getötet und das, obwohl ich keine Soldatin war oder überhaupt je Erfahrung im Kampf gesammelt hatte. Es war Glück, doch irgendwie hatte ich das Gefühl, mein Unterbewusstsein wollte mir sagen, dass ich großes Potenzial hatte. Ob das von einem meiner früheren Leben herrührte? Ich wusste es nicht.

 

Aber es tat sich nichts. Niemand stürmte den Fahrstuhl, um ihn anzuhalten. Dennoch wollte ich vorbereitet sein, wenn die Türen sich gleich öffnen würden, und hielt das Maschinengewehr bereit. Auf dem Display im Fahrstuhl sah ich, dass nur noch zwei Abteilungen kamen, und dann würde der Fahrstuhl anhalten. Angespannt starrte ich die Metalltüren an und machte mich mental sowie körperlich bereit. Einige Sekunden vergingen, und dann hielt der Fahrstuhl an. Mein Herz hämmerte so stark in meiner Brust, dass ich glaubte, es würde gleich zerspringen.

 

Okay“, flüsterte ich und schluckte einen dicken Kloß hinunter.

 

Die Türen glitten geschmeidig auf, und eine riesige leere Ebene kam zum Vorschein. Niemand war zu sehen. Keine Uniformierten. Keine Wissenschaftler. Keine Soul Hunters. Wo waren sie alle?

 

Ich trat hinaus und schaute mich genauer um. Nach wenigen Augenblicken reimte ich mir zusammen, dass ich in einer großen Halle war. Hier standen haufenweise Fahrzeuge akkurat an der Wand aufgereiht. Sie sahen militärisch aus. Geländewagen und kleine Jeeps. Einen von diesen würde ich kurzschließen und dann so schnell wie möglich von hier abhauen. Wenn hier die Fahrzeuge untergebracht waren, konnte es nicht mehr weit zur Oberfläche sein. Vielleicht war ich auch schon ganz oben angekommen. Immer wieder schaute ich mich um, denn meine Sinne waren bis aufs Äußerste geschärft. Ich musste unheimlich aufpassen. Vor allem, dass niemand hier war und mich angriff, machte die ganze Situation nur noch verdächtiger. Das Gewehr hielt ich deswegen eng an meine Brust gepresst, um sofort handeln zu können, sollte gleich irgendjemand um die Ecke kommen. Insgeheim wünschte ich mir dennoch, dass Charles jetzt auftauchen würde. Ihm eine Kugel zwischen die Augen zu jagen, würde mir eine große Zufriedenheit verschaffen. Ihn auszulöschen, würde vielen anderen eine Menge Leid ersparen.

 

Der Hass loderte wie ein unkontrolliertes Feuer in meinen Adern, und ich rannte in leicht geduckter Haltung an den Fahrzeugen vorbei, so wie ich es aus Filmen kannte. Und dann hörten meine Füße wie von selbst auf, sich zu bewegen, als mich warmes Licht im Gesicht traf. Ruckartig hob ich meinen Kopf und fühlte diese wunderbare Wärme. Wie lange war es schon her gewesen?

 

Ich ließ die Waffe sinken, stand reglos da und schaute nur dem wunderschönen Sonnenlicht entgegen. Die oberste Reihe der Halle zierte eine Fensterfront, durch die das Sonnenlicht hereinschien. Ich war schon oben. Ich war an der Oberfläche. Hoffnung keimte in mir auf und ließ mich plötzlich all meine Schmerzen vergessen. Ich rannte los. Vor mir befanden sich große Türen, wie von einem Hangar. Ich dachte nicht einmal darüber nach, ob sie verschlossen waren, denn das überwältigende Gefühl von greifbarer Freiheit vernebelte meinen gesunden Menschenverstand. Es ließ mich vergessen, dass ich eigentlich auf der Flucht war, dass ich gejagt wurde. Das alles schien im Moment in weite Ferne gerückt zu sein. Ich musste unbedingt die Sonne sehen, musste noch mehr von ihrer Wärme auf meiner Haut spüren.

 

Als ich bei den großen Türen ankam, war ich viel zu stürmisch und knallte mit den Händen und dem Brustkorb dagegen. Hektisch schaute ich mich um und entdeckte einige Meter rechts von mir seitlich an der Wand ein Schaltpult mit verschieden großen Knöpfen. Zwei davon waren noch größer als die anderen. Einer war rot, der andere grün. Im Moment leuchtete der rote Knopf. Ich vermutete, das musste bedeuten, dass die Hangartüren geschlossen waren. Ohne lange nachzudenken drückte ich den grünen Knopf, woraufhin dieser aufleuchtete. Nun schallte ein ratterndes Geräusch durch die Halle, und die Türen setzen sich knarzend in Bewegung. Mein Herz trommelte wie wild, während ich wie gebannt die großen Türen anstarrte und ungeduldig darauf wartete, dass sie sich öffneten, damit ich endlich den blauen Himmel sehen könnte. Staunend überlegte ich, wie merkwürdig es war, dass ein Hangar vom Militär nur mit so einem einfachen Mechanismus verriegelt war. Ich hatte höhere Sicherheitsvorkehrungen erwartet.

 

Waren es Wochen gewesen? Oder gar Monate? Wann hatte ich ihn zum letzten Mal gesehen, den Himmel? Ich war so aufgeregt wie ein kleines Kind an seinem Geburtstag.

 

Nun glitten die Türen in beide Richtungen vollständig auf, und ich achtete nicht auf den wunderschönen blauen Himmel. Nicht auf die Vögel, die frei am Himmel flogen und ihre Kreise zogen. Nicht auf die atemberaubende trockene Landschaft im Hintergrund. Nein … Das Erste, was ich sah, waren die zornigen Augen meines Vaters.